Vor 1700 Jahren, mit dem Toleranzedikt des Galerius im Jahre 311, begann eine Entwicklung, die als Konstantinische Wende bezeichnet wird. Diese Entwicklung machte im Verlauf von 69 Jahren aus der diskriminierten und verfolgten christlichen Kirche eine Kirche, die mit reichen gesellschaftlichen und staatlichen Privilegien ausgestattet war. Eine Einschränkung dieser Privilegien im Laufe der Jahrhunderte wurde bisher von Seiten der Betroffenen immer grundsätzlich beklagt.
Am Sonntag, dem 25. September 2011 hielt Papst Benedikt der XVI. in Freiburg im Breisgau vor 1500 Zuhörern eine historisch bedeutsame Rede, in der er eine Kehrtwende vollzog. Er sagte wörtlich:
„In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz“ [zur apostolischen Sendung der Kirche, Anm. d. Verf.] „, daß nämlich die Kirche sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam ist und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zur Offenheit auf Gott und der Welt auf den anderen hin.
Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von der Weltlichkeit der Welt lösen. Sie folgt damit den Worten Jesu nach: ‚Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin‘ (Joh 17,16). Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.
Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich ja dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößt und wieder ganz ihre weltliche Armut annimmt. Damit teilte sie das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft.
Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von materiellen und politischen Lasten befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben. Die missionarische Pflicht, die über der christlichen Anbetung liegt und die ihre Struktur bestimmen sollte, wird deutlicher sichtbar. Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, daß er meine wahre Innerlichkeit ist. Durch diese Art der Öffnung der Kirche zur Welt wird damit auch vorgezeichnet, in welcher Form sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann.
Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch daß sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheiten sind.“
Dass eine Befreiung von Privilegien unangenehme Folgen mit sich bringen kann, ist absehbar. Die geistliche Dimension dieses Prozesses lässt sich am ehesten im Licht von Lukas 9 /Matthäus 16 erahnen. Dieses Kapitel schildert die Wende in der öffentlichen Wirksamkeit des Herrn. Bis zu diesen Geschehnissen zog er heilend und lehrend in Galiläa umher. Von da an jedoch zog er Richtung Jerusalem, sein Leiden und seine Erhöhung vor Augen. Dem Ersten der Jünger fiel nur ein: „Gott behüte“.
Ebenso reflexartig erscheinen mir die unmittelbaren Dementis von I. E. Erzbischof Zollitsch, Kardinal Lehmann, Bischof Ackermann und des Kölner Staatskirchenrechtlers Stefan Muckel: Der Papst habe keine Abschaffung der Kirchensteuer gefordert. Nein, natürlich hat er das nicht. Er hat aber, indem er den geistlichen Nutzen der Säkularisierung betont hat, den Weg in diese Richtung eingeschlagen. Es scheint, der Hl. Vater wird Einiges an Schelte zu hören bekommen.
Organisationen wie der HVD dagegen freuen sich über die Worte von Papst Benedikt, sehen sie sich doch in ihren Forderungen bestärkt, den öffentlichen Einfluss der Kirche zu verringern. Ist es unklug, vom Papst, solchen Forderungen entgegenzukommen? Nein. Sein Handeln ist im Sinne von Mt 5,40.
Die Wirkung dieser benediktinischen Wende wird nicht morgen und nicht übermorgen zu beobachten sein. Vielleicht wird man erst in Generationen ihre Bedeutung erfassen.