Manchem meiner Leser mag aufgefallen sein, dass ich nur von einer Kanonisation und nicht von einer Heiligsprechung Hildegards schreibe. Dies hat seinen Grund darin, dass die deutsche Übersetzung „Heiligsprechung“ für canonizatio suggeriert, die einzige Bedeutung des Kanonisationsaktes bestehe in der Berechtigung zur Führung des Titels „Heilige/r“. Erstens ist aber wesentlicher Inhalt der Kanonisation die weltweite Erlaubnis zur öffentlichen liturgischen Verehrung. Zweitens ist der Titel „Heilige/r“ zwar heute an die Kanonisation gebunden, aber das war nicht immer so.
In alten Zeiten war die Erlaubnis zur Verehrung eines Verstorbenen als Heiliger bischöfliche Angelegenheit. Erst ab dem 10. Jahrhundert gab es päpstliche Heiligsprechungen, im 12. Jahrhundert entwickelte sich unter Innozenz III. der Anspruch des Papstes auf das alleinige Recht zur Verleihung des Titels „Heiliger“. Die Kanonisationsformel enthält deswegen damals wie heute die Phrase „Einschreibung in den Katalog der Heiligen“.
Rechtskraft bekam dieser Anspruch mit einer Dekretale des Papstes Gregor IX. im Jahre 1234: „Sine Papae licentia non licet aliquem venerari pro sancto“ – „Ohne die Erlaubnis des Papstes darf niemand als Heiliger verehrt werden“. Papst Gregor IX.? Na hoppla, das ist doch auch der Papst, an den der Kanonisationsantrag bezüglich Hildegards ging!
Natürlich hieß das nicht, das allen bisher bischöflich Heiliggesprochenen der Titel nun aberkannt wurde. Es hieß auch nicht, dass von nun an auf bischöflicher und damit örtlicher Ebene keine Kulterlaubnis mehr vergeben wurde. Es etablierte sich lediglich in den folgenden Jahrhunderten ersatzweise die Bezeichnung „Selige/r“ als Titel für solche Verstorbenen, die (noch) keine universale päpstliche, sondern eine lokale bischöfliche Erlaubnis ihrer öffentlichen Verehrung genießen.
Prof. Georg May schreibt unter Berufung auf Vauchez: „Während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters wurden die meisten Verehrungen neuer Heiliger, die sich in der abendländischen Christenheit entwickelten, durch die höchste Autorität weder bestätigt noch verworfen und entwickelten sich örtlich und regional in völliger Freiheit. Seit dem 14. Jahrhundert wurde der Unterschied zwischen kanonisierten und nichtkanonisierten Heiligen vom Heiligen Stuhl in die Begriffe sancti <Heilige (Anm. d. Verf.> und beati <Selige>gefasst.“
Im Briefwechsel und den Protokollen des Hildegard betreffenden Kanonisationsantrages kann man interessanterweise feststellen, dass sie hier schon konsequent „Selige“ genannt wird. Auch aus noch anderen Gründen müssen folgende Fragen an die weitere historische Forschung gestellt werden:
- Hat es eine bischöfliche Erlaubnis zur Verehrung Hildegards gegeben?
- Wenn ja, vor 1234 (mit der Konsequenz einer rechtmäßigen Titulierung als Heiliger)?
Ich verrate hier nur soviel: es gibt mehrere Indizien für ein zweifaches JA. Abgesehen davon hat selbst der Heilige Vater Hildegard, wann immer er sie erwähnt hat, als Heilige bezeichnet. Darum meine persönliche Meinung:
Hildegard bischöflich heiliggesprochen vor 1234 – kanonisiert 2012