In der Berichterstattung über die Predigt des Hl. Vaters am 20.12.2013 in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses „Domus Sanctae Marthae“ heißt es bei kath.net:
Die Mutter Jesu „ist das vollkommene Bild der Stille gewesen“, so der Papst weiter, … bis hin zur grausamsten Stille zu Füßen des Kreuzes:„… Sie war in Stille, doch in ihrem Herzen – wie viel sagte sie doch dem Herrn! ‚Du hast mir damals gesagt – das ist es, was wir soeben gelesen haben –, dass er groß sein wird. Du hast mir gesagt, dass du ihm den Thron seines Vaters David geben wirst, dass er über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen wird. Und jetzt sehe ich ihn dort!’ Die Gottesmutter war menschlich! Und vielleicht hatte* sie Lust zu sagen: ‚Lügen! Ich bin getäuscht** worden!’ “.
Gott der Lüge oder der Täuschung zu zeihen, stellt eine Gotteslästerung und damit eine in sich schwere Sünde dar (KKK 2148). Dass die allerseligste Jungfrau dies getan haben könnte, ist nach Lehre der Kirche ausgeschlossen und zwar de fide, also eine Glaubenswahrheit von höchstem Gewissheitsgrad. Doch wohlgemerkt: Papst Franziskus hat nicht gesagt vielleicht hat sie gesagt, sondern vielleicht hatte sie Lust zu sagen. Es geht also nicht um die Sünde, sondern um die Neigung zur Sünde. Der theologische Fachterminus für Neigung zur Sünde ist Konkupiszenz. Ist die Gottesmutter frei von Neigung zur Sünde (wie es meinem persönlichen spontanen Empfinden entspricht) oder ist ist es denkbar, dass sie eine Neigung zur Sünde / Lust zur Gotteslästerung verspürt hat (wie es Papst Franziskus für möglich hält)? Im online zugänglichen Lehrbuch der Dogmatik von Pohle/Gierens, S. 283 findet sich folgender Lehrsatz:
Die Mutter Gottes war zeitlebens von jeder wirklichen Regung der bösen Begierlichkeit [=Konkupiszenz, Anm. d. Verf.] faktisch befreit. Sententia communis.
Der Zusatz Sententia communis bezeichnet den Gewissheitsgrad der Glaubenswahrheit und bedeutet in diesem Fall nach Wikipedia:
Sententia communis (theologisch sicher) wird eine Wahrheit genannt, die unter (zumindest stillschweigender) Billigung der Kirche von den Theologen übereinstimmend gelehrt wird. Eine theologische Diskussion ist zulässig.
Wenn also eine theologische Diskussion über diesen Glaubenssatz zulässig ist, dann erst recht, wenn der Papst diese Diskussion anstößt. Andererseits heißt es im zitierten Dogmatiklehrbuch, S. 283:
…, so spannt sie [die Offenbarungslehre, Anm. d. Verf.] … die allseitige Makellosigkeit der Mutter Gottes — und zwar im Interesse Christi selbst — so hoch, dass sicher die faktischen Regungen … [der bösen Begierlichkeit, Anm. d. Verf.] bei ihr als ausgeschlossen gelten müssen. Dies ist und war immer derart eine allgemein katholische Lehre, daß auch die alten Gegner der unbefleckten Empfängnis niemals daran gerüttelt haben.
Zusammenfassend lässt sich also sagen: Papst Franziskus stellt eine schon immer bestehende — nicht dogmatisch festgelegte (und damit zulässig) — kirchliche Lehre über Maria zur Diskussion. Kann er sich sonst, wie er andeutet, nicht vorstellen, dass Maria menschlich war?
Da Papst Franziskus diese seine neue Lehre nicht ex cathedra ausgesprochen hat, darf ihr widersprochen werden. Dies tue ich , bei allem Respekt, hiermit ausdrücklich, ohne den Sachverstand eines Theologen, ohne Lehramt, sogar ohne ein ausgesprochener Marienverehrer zu sein, nur aufgrund der mir verliehenen Tauf- und Firmgnade und aufgrund meiner Teilhabe am sensus fidelium.
Da ich kein theologisches Studium absolviert habe, bitte ich kompetentere Leser um Korrektur, falls ich bei meiner Recherche theologische Sachverhalte falsch wiedergegeben habe.
*hatte sie Lust zu sagen] Eigene Übersetzung. Der kath.net-Artikel übersetzt den italienischen Indikativ aveva la voglia di dire als hätte Lust gehabt zu sagen
**getäuscht] oder betrogen, ital. ingannata